Interview mit einem Rüsseltier

Hallo Rosalie, was macht denn ein rosa Schwein in der Kinderbibliothek?

Also ich verbitte mir das. Schwein bin ich nicht. Sondern ein Rüsseltier. Ein echtes Rüsseltier. Einzigartig. Unikum.

Na dann erzähl mal, wie bist du hier her gekommen?

Tja, das war 1985, zum Neubau der Stadtbibliothek Reutlingen. Für das Veranstaltungsprogramm der Kinderbibliothek wurde ein Logo entwickelt. Das war ich. Nur auf Papier, aber immerhin. Ein paar Jahre später materialisierte ich mich sozusagen aus der Zweidimensionalität hinaus in die Dreidimensionalität mittels einer Reutlinger Textilkünstlerin, die mir ein flauschiges rosa Kunsthaarfell verpasste. Eine Kinderbibliothek ohne Maskottchen zum Streicheln ist schließlich keine richtige Kinderbibliothek!

Deine Dreidimensionalität ist sehr ausgeprägt, wie ich sehe. Sport treibst du nicht viel?

No sports, um es mit Churchill zu sagen. Ich sitze und bewahre den Überblick. Wenn es rundgeht und Mütter, Väter, Großeltern, Krabbelkinder, Erforscherinnen und Prinzen zwischen den Regalen wuseln, bin ich der ruhende Pol im Zentrum des Geschehens. Vom Schrank am Auskunftsplatz habe ich den besten Überblick.

Dann kannst du uns erzählen, wie das früher war?

Ich hoffe, du hast viel Zeit mitgebracht, denn ich fange vorne an. Damals, als Kinder die Hände waschen mussten, bevor sie den 1952 neu eröffneten Kinderlesesaal im Spendhaus betreten durften. Ein Waschraum wurde extra dafür gebaut. Mit der Errichtung des Kinderlesesaals hat die Stadt Reutlingen „den Kampf gegen die Schmutz- und Schundliteratur aktiv aufgenommen“, hieß es in einem Zeitungsartikel der Reutlinger Nachrichten vom 14.10.1953. Der Bildungsgedanke stand damals im Vordergrund. Aber immerhin: eine Jugend-Freihandbücherei war es und die erste in Württemberg überhaupt. Die Kinder durften sich ihre Lektüre selbst aussuchen, auf bunten Stühlen sitzen und still lesen.

 

Dieser Kinderlesesaal damals muss sehr übersichtlich gewesen sein.

Nur flüsternd durfte man sich unterhalten, bewacht von der gestrengen Bibliothekarin Fräulein Schupp und ihren Gehilfinnen. 750 Bücher gab es zur Auswahl. Kein Vergleich zu heute, wo es etwa 37.000 Medien gibt, der Lärmpegel in der Kinderbibliothek immer hoch ist und ab und zu eine kindliche Sirene dermaßen schrill durchs Haus grellt, dass es durch Mark und Bein geht. Naja, die Zeiten wandeln sich.

Wie hat sich die Kinderbibliothek in den letzten Jahrzehnten verändert?

Seit wir neue Möbel bekommen haben, gefällt mir die Kinderbibliothek richtig gut, die frischen Farben machen Laune. Aber leider ist die Fläche zu klein. Es wäre schön, wenn sich die Kinderbibliothek bei einer Neukonzeption des Hauses ausbreiten könnte. Der Bestand hat sich extrem gewandelt und ist vielseitiger geworden, weg vom Buch und hin zur Medienvielfalt. Tonies, Hör-CDs, Konsolenspiele, Gesellschaftsspiele, Spielfilme und Serien für Kinder auf DVD und zum Streamen, Kamishibai-Tafeln und Technik-Baukästen sind heute selbstverständlich.

   

Wie wird die Zukunft aussehen?

Familien heute nutzen digitale Angebote. Und die Stadtbibliothek stellt sich darauf ein. In der eAusleihe Neckar-Alb gibt es ein großes Angebot an Kinder- und Jugendmedien wie eBooks und eAudios. Unser Streamingdienst Filmfriend bietet Kinderfilme und -Serien an und auch bei Veranstaltungen geht es – nicht nur seit Corona – ganz stark hin zur Digitalisierung. Jetzt laufen kleine Roboter durch die Kinderbibliothek und in der Technothek werden technische und naturwissenschaftliche Mitmachangebote gemacht.

Lesen Kinder überhaupt noch?

Natürlich lesen Kinder! Das beweist unser Sommerleseclub, der besonders bei den Grundschüler/innen super angenommen wird. Aber ich muss auch sagen: die Lese- und Schreibfähigkeit hat bei vielen Kindern abgenommen. Das beobachte ich immer wieder bei den Klassenführungen und das berichten auch Lehrer/innen, wenn sie mit meinen Kolleginnen in der Kinderbibliothek über Leseförderung sprechen. Eine Studie der Stiftung Lesen hat kürzlich nachgewiesen, dass immer weniger vorgelesen wird. Dabei ist das doch so wichtig! Außerdem haben Film und Fernsehen großen Einfluss auf die Vorlieben von Kindern. Dass sich der Medienkonsum von Kindern und Jugendlichen ändert, ist normal. Digitale Medien nehmen im Alltag schon bei den Jüngsten eine große Rolle ein. Welche Auswirkungen das auf ihre Informationsverarbeitung und -wahrnehmung hat, beschäftigt Lehrer, Eltern und Bildungsinstitutionen und natürlich auch meine Kolleginnen in der Kinderbibliothek. Das Team macht einen vielseitigen und anspruchsvollen Job. Vor allem gilt es, Kindergärten und Schulen zu begleiten, zum Beispiel durch Klassenführungen.

Weshalb macht man Klassenführungen? Was ist das Ziel?

Die Schüler/innen sollen die Stadtbibliothek kennenlernen: Ausleihbedingungen und Regeln, aber vor allem einen Ort, der ihnen etwas zu bieten hat und wo sie sich wohlfühlen können. Eine Klassenführung soll in erster Linie Spaß machen. Wir stellen uns darauf ein, dass Klassenführungsprogramme allen Kindern mit unterschiedlichen Lesefähigkeiten Freude machen sollen, denn es gibt jetzt auch viele altersgemischte Klassen. Unser Ziel: Schüler/innen sollen gerne wiederkommen!

Wie haben sich die Kinder in den letzten Jahren verändert?

Viele Kinder sind selbstbewusster geworden. Manchmal lassen sie sich nichts von den Erwachsenen sagen. Die Mediennutzung hat sich geändert. Handy, Tablet, Internet, Soziale Medien beeinflussen die Kommunikation und vor allem dann, wenn nach Informationen für die Schule gesucht wird. Google und Wikipedia sitzen heute mit im Schulranzen.

Wie erlebt ihr am Informationsplatz den täglichen Betrieb?

Oft muss man genau nachfragen um zu verstehen (z.B. bei englischen Wörtern + Mundschutz). Es gibt auch Kinder, die sehr schüchtern sind und animiert werden müssen, ihre Bedürfnisse zu äußern. Es gibt viel spontane Freude, wenn das gewünschte Medium da ist, aber auch Enttäuschung, wenn nicht.

Gibt es ein witziges Erlebnis, die du uns zum Abschluss berichten kannst?

Hm, da fällt mir schon was ein. Zum Beispiel der Junge, mit geringen Deutschkenntnissen, der gerne einen Controller für die Playstation ausleihen wollte. „Für einen Controller musst du ein Pfand da lassen“, meinte die Bibliothekarin zu ihm. Der Junge war traurig, ein Pfand habe er nicht. Aber am nächsten Tag stand er strahlend am Auskunftsplatz und präsentierte eine Pfandflasche. Jetzt hätte er ein Pfand mitgebracht und dürfe doch einen Controller für die Playstation ausleihen. Da musste ich doch schon sehr schmunzeln.
Oder wenn ein Kind aus vollem Hals das Titellied einer Kinderserie schmettert, weil ihm der Name der Serie gerade nicht einfällt, dann hallen Melodien durch alle Stockwerke.

Vielen Dank Rosalie!

 

 

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