Am Tisch ist grundsätzlich Platz genug für alle. Interview mit Kuratorin und Autorin Selma Wels

von Argiro Mavromatis

Im Rahmen der Internationalen Wochen gegen Rassismus organisieren Reutlinger Institutionen und Vereine zahlreiche Veranstaltungen und Aktionen mit den Zielen, Begegnung und Austausch zu ermöglichen, Solidarität mit Betroffenen von Rassismus zu zeigen und gemeinsam darüber nachzudenken, was wir als Gesellschaft tun können, um Diskriminierung entgegenzutreten.

Motto der Internationalen Wochen gegen Rassismus 2023

In die Stadtbibliothek Reutlingen haben wir in diesem Jahr mit Selma Wels und Elisa Diallo zwei Expertinnen für interkulturellen Dialog eingeladen, die im Gespräch mit der Reportageschule Reutlingen am 24. März den Briefband „anders bleiben. Briefe der Hoffnung in verhärteten Zeiten“ vorstellen werden.

Kuratorin und Autorin Selma Wels und Autorin und Literaturwissenschaftlerin Elisa Diallo sind am 24. März zu Gast in der Stadtbibliothek Reultingen. Foto: picture people / privat

Selma Wels ist Herausgeberin des Bands, in dem Autor/innen in 21 Briefen ein intensives Zwiegespräch über ihr Dasein in der deutschen Gesellschaft führen. Die Frage, wer wir in Deutschland sind und was mit diesem “Wir” eigentlich gemeint ist, steht im Zentrum vieler kluger Analysen und heiß geführter Debatten. In der literarischen Briefform kommen im Band anerkannte Stimmen des interkulturellen Dialogs in Deutschland zu Wort, darunter u.a. der israelisch-deutscher Pädagoge Meron Mendel, Schriftstellerin Shida Bazyar, Politikwissenschaftlerin Hadija Haruna-Oelker  und Literaturwissenschaftlerin und Autorin Elisa Diallo.

Verlag: Rowohlt Taschenbuch, Erscheinungstermin: 31.01.2023

Im Vorfeld zur Veranstaltung habe ich mich mit Selma Wels über das aktuelle Buch unterhalten und darüber, warum Diversität ein Gewinn für alle ist.

Aus welchem Impuls heraus entstand die Ideen zum aktuellen Buch? War es Hoffnung oder war es die Sorge vor aktuellen Entwicklungen?

SW: Die Idee zum Buch entstand wenige Tage nach dem rassistischen Anschlag in Hanau am 19.02.2020. In erster Linie aus Sorge und Betroffenheit aufgrund der aktuellen oder vielmehr der immer wiederkehrenden Gewalt gegenüber marginalisierten und fremdgelesenen Menschen in Deutschland.

Sie beschreiben in ihrem Vorwort die Erschütterung und Verunsicherung nach dem rassistischen Anschlag von Hanau im Februar 2020. Wie wirkt sich ein solches Ereignis auf ihr Gefühl der Sicherheit im eigenen Land aus?

SW: Ich bin in den 90er-Jahren aufgewachsen. In meiner Erinnerung sind die Brandanschläge dieses Jahrzehnts sehr präsent. Auch wenn ich mich in meinem Zuhause in Baden-Württemberg immer sicher fühlte, wurde das Fragezeichen in meinem 14-jährigen Kopf nach Solingen immer größer. Warum machen Menschen so etwas? Ich konnte es und kann es bis heute nicht begreifen. Aber man entwickelt im Laufe eines Lebens ja auch Mechanismen, die den Umgang mit Angst und Unsicherheiten helfen zu überstehen. Irgendwie muss es ja weitergehen. Aber natürlich tut es das nicht einfach so. Wir reden ja nicht nur über die Brandanschläge der 90er-Jahre. Die Liste wird immer länger mit NSU, NSU 2.0, um nur bei den Dingen zu bleiben, die ans Tageslicht gekommen sind und um deren versprochene „lückenlose“ Aufklärung in der Regel die Angehörigen kämpfen. Seit dem Anschlag von Hanau allerdings geht es nicht nur um mein eigenes Sicherheitsgefühl. Diesen Anschlag habe ich zum ersten Mal auch in meiner Eigenschaft als Mutter erlebt und damit verbunden habe ich mir natürlich primär die Frage gestellt: Was können wir als Gesellschaft tun, um unsere Kinder zu schützen?

Für den Titel “anders bleiben: Briefe der Hoffnung in verhärteten Zeiten” haben Sie eine Reihe von Autor*innen angefragt und darum gebeten Briefe zu verfassen. Nach welchen Kriterien haben Sie die Personen ausgewählt?

SW: In meiner Arbeit, z.B. als Kuratorin, geht es mir darum, Raum zu schaffen. Sei es auf Bühnen oder wie jetzt in einem Raum. Raum für starke Stimmen unserer Zeit, die die Debatten prägen sollten, die mit ihrer Perspektive einen wichtigen Beitrag leisten und unsere Gesellschaft als Ganzes repräsentieren. Diese Räume dürfen nicht mehr nur dem homogenen, christlich-weißen Teil der Gesellschaft, die sich auf ihre Privilegien stützen, offenstehen. Und genau diese Stimmen habe ich gebeten, Briefe zu schreiben.

Welches Potential hat die für das Buch gewählte Briefform gegenüber einem Essay?

SW: Durch die Briefform sind sehr persönliche Texte entstanden, von denen ich glaube, dass sie auch einen direkteren Zugang zu den Lesenden finden. Was machen bestimmte Erfahrungen mit uns in unserem Mikrokosmos und was können wir daraus auf den Makrokosmos übertragen? Mein Vorwort sollte auch ein anderes werden. Weniger persönlich. So war es zumindest angedacht. Ich wollte mit Zahlen und Fakten einen sehr rationalen Beitrag schreiben. Doch fiel mir das sehr schwer. Ich dachte mir, dass alle hier in Deutschland lebende Menschen, die mit gesundem Menschenverstand gesegnet sind, von mir nicht hören brauchen, dass Deutschland ein Problem mit Rassismus hat. Das sollte klar sein, darüber müssen wir nicht mehr sprechen. Und wenn wir darüber nicht mehr sprechen müssen, dann lasst uns darüber sprechen, wie wir das im Kleinen wie im Großen angehen können.

Laut der Bundeszentrale für politische Bildung haben gerade einmal zehn Prozent der im öffentlichen Dienst Beschäftigten eine Migrationsgeschichte. Ich wähle das Beispiel, weil ich zu diesen zehn Prozent gehöre und das auch schon in zweiter Generation. Wie durchlässig sind institutionelle Strukturen in Deutschland heute wirklich? Und was müssen wir tun, um als postmigrantische Gesellschaft wirklich zusammen zu wachsen?

SW: Institutionelle Strukturen sind sehr starr. Die Entscheider*innen sind in der Regel männlich und weiß. Im Grunde geht es nicht nur um institutionelle Strukturen, es geht gleichzeitig um patriarchale Strukturen, die es zu durchbrechen gilt. Ein gutes Instrument gegen die ungerechte Verteilung von Macht zwischen Männern und Frauen war und ist das Beispiel der Frauenquote. Ohne sie gäbe es heute viel weniger Frauen in Führungspositionen. Und natürlich wird das heiß diskutiert. Die Diskussion um Quote und Qualifikation hat zu Teilen vielleicht eine Berechtigung, aber letztendlich wird sie meiner Meinung nach immer wieder hervorgehoben, wenn es wirklich darum geht, für andere Platz zu machen. Und da das anscheinend niemand freiwillig tut, ist es vielleicht an der Zeit als (kultur-)politisches Instrument über die Einführung einer Diversitätsquote nachzudenken.

Anders bleiben! Das klingt für mich nach einem mutigen und hoffnungsvollen Ausruf. Warum bereichert Diversität?

SW: Weil Diversität die Realität ist. In Berlin hat jede vierte Person unter 18 eine Migrationsgeschichte. In Städten wie Frankfurt am Main sogar jede zweite. Unsere Gesellschaft ist vielfältig und sie wird es immer mehr. Diversität bezieht sich ja auch nicht nur auf die kulturelle Herkunft. Es gibt nicht nur eine Wahrheit, einen Blick aufs Leben. Und das darf und muss sich auf allen Ebenen widerspiegeln, wenn wir von einer inklusiven Gesellschaft sprechen. Das wäre erstrebenswert. Denn: Am Tisch ist grundsätzlich Platz genug für alle.

 

Selma Wels kam 1979 als Tochter türkischstämmiger Eltern in Pforzheim zur Welt. Von 2011 bis 2020 gründete und leitete sie den binooki Verlag. 2017 wurde sie europaweit als erste Verlegerin für „ihren unternehmerischen Mut, ihren Pioniergeist und ihre kulturelle Vermittlungsarbeit“ mit dem renommierten europäischen Kulturpreis KAIROS ausgezeichnet. Sie ist Co-Initiatorin und Kuratorin des viel beachteten Literaturfestivals „WIR SIND HIER – Festival für kulturelle Diversität“. 2022 wurde sie in die Jury des Deutschen Buchpreises berufen.

Am 24. März stellt Selma Wels gemeinsam mit Elisa Diallo den Band „anders bleiben. Briefe der Hoffnung in verhärteten Zeiten“ in der Stadtbibliothek Reutlingen vor. Eine Kooperation mit der Reportageschule Reutlingen. Infos zur Veranstaltung

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