Geflüchtete Menschen in der Stadtbibliothek Reutlingen – welcome to our library

Zum Weltflüchtlingstag am 20. Juni

von Tanja Schleyerbach

 

Es begann 2015. In diesem Jahr des zunehmend eskalierenden Krieges in Syrien kamen zum ersten Mal wahrnehmbar viele geflüchtete Menschen nicht nur nach Deutschland, sondern auch in die Stadtbibliothek Reutlingen. Sicher waren auch zuvor schon Menschen mit Fluchtgeschichte unsere Besucher/innen, aber wir haben sie nicht so stark wahrgenommen. Niemand wird in der Stadtbibliothek nach seiner oder ihrer Lebens­geschichte gefragt – und das ist gut so. Trotzdem kann man ahnen, was Menschen aus u.a. Syrien, Afghanistan oder Eritrea zurücklassen mussten und verloren haben, was sie durchlebt haben und nicht mehr aus ihrer Biografie entfernen können. Um diese Geschichten zu bewahren, gründete das Haus der Kulturen der Welt (HKW) gefördert von der Kulturstiftung des Bundes das Archiv der Flucht, ein Oral History Projekt. Hier gibt es Filme von Geflüchteten, die einen Einblick geben, was Flucht für den einzelnen bedeuten kann. Die Flucht bekommt in diesen Filmen Gesichter und Worte.

Weltweit sind über 100 Millionen Menschen auf der Flucht. Das ist mehr als 1 % der Weltbevölkerung. 42 % aller Geflüchteten sind Kinder. 69 % leben in den Nachbarländern. In Deutschland lebten Mitte 2022 2,2 Millionen geflüchtete Menschen. Unter www.aktion-deutschland-hilft.de finden Sie viele Informationen rund um das Thema Flucht.

 

Aktion Deutschland hilft, 2021

In Reutlingen leben knapp 50.000 Menschen mit Einwanderungsgeschichte (Quelle und Stand: Reutlingen im Spiegel der Statistik 2021). Knapp 25.000 davon haben eine andere als die deutsche Staats­angehörigkeit und kommen aus 180 Ländern. Beispielsweise stammen sie aus Griechenland, der Türkei, Kroatien, Italien und Syrien (zusammen ca. 45 %). Über 1.500 Personen aus 109 Ländern (die Angabe der Nationalität ist freiwillig) haben in der Stadtbibliothek Reutlingen einen Bibliotheksausweis. Darunter befinden sich ebenfalls viele Nutzer/innen mit Fluchterfahrung – die Anzahl nahm im letzten Jahr nochmal deutlich zu.

Wir möchten den Menschen, die hier neu anfangen oder vorübergehend bleiben, ein Gefühl des Willkommenseins vermitteln. Ihnen einen Ort bieten, in dem sie sicher und in Frieden sein können. An dem es Menschen gibt, die ihnen ehrenamtlich beim Deutschlernen helfen (Deutsch im Alltag), wo sie Hilfe bekommen bei dem, was ihnen eine Bibliothek an Unterstützung bieten kann. Die Freunde der Stadtbibliothek Reutlingen e.V. unterstützen Geflüchtete hierbei mit einem Schnupperausweis. Die Angebote der Stadtbibliothek können durch ihre einfache Zugänglichkeit auch Menschen mit beschränkten Mitteln Wünsche erfüllen. Erst heute hat mir eine Integrationsmanagerin erzählt, dass eine 16‑jährige Frau aus Afghanistan so gerne Violine spielen möchte. Sie hat die Gelegenheit, denn in der Stadtbibliothek können Instrumente sowie das dazu passende Notenmaterial für acht Wochen ausgeliehen werden.

Inzwischen blicken wir auf acht Jahre zurück, in denen Menschen mit Fluchterfahrung bei uns zu regelmäßigen Kunden wurden, ihre Arbeiten in Ausstellungen präsentierten, Texte verfassten, zu Lesungen eingeladen wurden, für Besucher/innen kochten und buken, als “Lebendiges Buch” ihre Geschichte erzählten, eine Märchenreise gestalteten, einen deutsch-ukrainischen Leseclub eröffneten, Deutsch lernten und vieles mehr.

Statista, 2022

Seit 2016 haben wir unseren Medienbestand zum Deutsch lernen in der Hauptstelle und in Zweigstellen aufgestockt, ukrainische Bücher gekauft und in enger Abstimmung mit Integrationsmanager/innen fast 40 Kisten mit neuen Medien, Spielen und Instrumenten für Kinder und Erwachsene gepackt und sie in viele Unterkünfte in Reutlingen und im Landkreis Reutlingen gefahren. Immer wieder besuchten wir diese Unterkünfte im Lauf der Jahre.

Ich weiß, dass wir den Menschen mit verlorener Heimat nicht viel geben können. Wir können ihnen weder ihre Schmerzen lindern noch ihre Fluchterfahrungen vergessen machen. Aber wir können den geflüchteten Menschen überall, wo wir ihnen begegnen unsere Menschlichkeit, Freundlichkeit, ein offenes Herz und ein Lächeln schenken. Wir können sie unterstützen im Rahmen unserer Möglichkeiten. Dass man hierfür auch etwas zurück bekommt, kann man bei unserem Angebot zum Deutsch lernen Deutsch im Alltag gut erkennen. Lernbegleiter/innen und Lernende verlassen am Ende der Lernzeit fröhlich und oft lachend gemeinsam den Raum. Manche haben sich vernetzt und treffen sich auch außerhalb der Stadtbibliothek, um zusammen zu lernen. Dieses Gefühl des Miteinanders kann Zufriedenheit im Beruf, Ehrenamt und im Privatleben bedeuten.

 

Titelbild: Pixabay

Schreibe einen Kommentar