Vor nicht allzu langer Zeit kamen zwei Kunden zu mir an die Auskunft, die, wie so viele, nach einem bestimmten Buch suchten. Wir fanden es und da kein weiterer Kunde auf eine Auskunft wartete, bot ich an, mit an das Regal zu kommen und das gewünschte Medium heraus zu suchen. In diesem Moment, als ich den beiden es übergab, sagte der Mann zu seiner Begleiterin: „Du wolltest doch noch was fragen!“Die Angesprochene nickte zögerlich. Ich ermunterte sie, gerne alles zu fragen, was ihr einfiele. Da meinte sie: „Wo ist hier denn eigentlich die Verbotene Abteilung?“
Ja, wo eigentlich? Das lies mich an folgende Passage aus dem ersten Harry Potter-Buch denken:
„Die Bibliothek war pechschwarz und sehr unheimlich. Harry zündete eine Lampe an, um durch die Buchreihen sehen zu können. Die Lampe sah aus, als würde sie mitten in der Luft schweben, und obwohl Harry spürte, wie sein Arm sie stützte, machte ihm der Anblick Angst. Die Verbotene Abteilung befand sich ganz hinten in der Bibliothek. Er trat vorsichtig über das Seil, das diese Bücher vom Rest der Bibliothek trennte, und hielt seine Lampe hoch, um die Titel zu lesen.“
(Zitat aus „Harry Potter und der Stein der Weisen“, Kapitel 12)
So oder so ähnlich vermag man sich die Verbotene Abteilung in der Bibliothek von Hogwarts, Schule für Hexerei und Zauberei, vorzustellen. Ein düsterer, für minderjährige Zauberer unzugänglicher Ort, an welchem wertvolle Bücher zum Studium der Schwarzen Magie aufbewahrt werden. Solange die Schülerinnen und Schüler unter siebzehn Jahren (in der Zaubererwelt wird man bereits mit siebzehn volljährig) sind, kommen sie dort so einfach nicht hin. Lediglich mit der ausdrücklichen, schriftlichen Erlaubnis eines Lehrers lässt sich die Bibliothekarin Madame Pince erweichen, wenn auch nicht gerade freiwillig. Eine List, die Hermine Granger in ihrem zweiten Schuljahr anwendet, um an das Rezept für den Vielsafttrank zu kommen. Oder man verwendet, ganz wie Harry, einfach einen Tarnumhang und schleicht sich des Nachts in die Verbotene Abteilung, um heimlich zu recherchieren.
Wir sehen also, dass nicht alle Bereiche der Bibliothek öffentlich zugänglich sind, ähnlich wie in dem realen Vorbild, der Bodleian Library (von den Studenten liebevoll „The Bod“ genannt) in der Universitätsstadt Oxford in England. Gestiftet durch Sir Thomas Bodley im Jahre 1602, ist sie eine der größten Universitätsbibliotheken weltweit und besitzt äußerst wertvolle Sammlungen. Und ebenso eine eigene, „verbotene“ Abteilung: die Duke Humfrey’s Library, der älteste Lesesaal von „The Bod“ überhaupt, und Bewahrer humanistischer Sachbücher. Sie kann nur als studierendes Mitglied oder anhand einer Führung besucht werden. Immerhin, bis vor wenigen Jahren wurde der Zutritt noch jedem verwehrt, der nicht als Student an der Universität von Oxford gemeldet war.
Aber was hat das alles mit der Stadtbibliothek Reutlingen zu tun?
„Natürlich haben wir eine Verbotene Abteilung!“, antwortete ich der Kundin, die freudestrahlend fragte, wo diese sich denn befinde. Tatsächlich ist sie, die wir der Einfachheit halber jedoch schlicht „Magazin“ nennen, in unserem Keller untergebracht. Dort, wo es schön kühl ist und die teilweise sehr alten Bücher noch viele Jahre überdauern werden. Hier unten stehen all die Bücher, die schon lange nicht mehr ausgeliehen werden, jedoch vom Thema her so interessant sind oder einen derart berühmten Autor haben, sodass wir uns entschlossen haben, sie nicht über unseren Flohmarkt zu verkaufen, sondern anstatt im normalen Bestand im Magazin unterzubringen. Zwischen Weihnachts- und Osterbüchern, die wir jedes Jahr passend zur Saison wieder zu Tage befördern, ruhen hier die zehnbändige Biographie von Winston Churchill, alte Ausgaben von Schiller und Goethe, Bildbände von Günter Grass oder Romane von Wilhelm Hauff in den Regalen. Dort warten sie auf den einen Tag, an dem wir sie wieder hinauf holen und einem glücklichen Kunden zur Ausleihe übergeben, der nie gedacht hätte, dass wir solche Schätze noch aufbewahren. Aber nicht alles ist zur Ausleihe gedacht. Sehr alte Bücher, so beispielsweise eine Ausgabe zu Dantes Göttliche Komödie von 1926, sind in der heutigen Zeit nicht mehr wiederzubeschaffen, weshalb sie mit dem Vermerk „Nicht entleihbar“ versehen sind. Das bedeutet, dass diese Bücher zwar heraufgeholt, aber nur im Studienkabinett des Hauses unter Aufsicht gelesen werden dürfen. Bei Büchern, die noch viel älter sind, bedarf es eines schriftlichen, wissenschaftlichen Nachweises, um es überhaupt erst einsehen zu dürfen. Fast also doch ein wenig wie in der Bibliothek von Hogwarts, oder?
Wie aber auch Madame Pince dürfen nur wir als Mitarbeiter die Verbotene Abteilung aufsuchen. Unseren Kunden bleibt der Zutritt, manchmal sehr zu deren Bedauern, verwehrt. Außer, sie sind im Besitz eines Tarnumhangs.
Jessica Grobelnik
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