von Barbara Glaser
Eine Bibliothek braucht kein Haus mit Fenstern und Türen. Das konnte ich vor fast 20 Jahren während eines Praktikums in Bremerhaven in der Bibliothek des Alfred-Wegener-Instituts (AWI), einer Wissenschaftsinstitution, die Eis und Meer erforscht, erfahren. Verteilen sich die Zweigstellen in Reutlingen auf einer Fläche von gerade mal 87,06 km², so gibt es beim AWI mehrere Bibliotheksstandorte, verteilt auf einer Fläche von Tausenden von Quadratkilometern von Helgoland bis Potsdam und zwischen Sylt und der Antarktis. Und eine ganz besondere AWI-Bibliothek fährt sogar um die Welt: die des Forschungseisbrechers „Polarstern“.
Schon als Kind wollte ich unbedingt als Forscherin in der Antarktis arbeiten. Als was, war mir egal – Hauptsache kalt. Nur scheiterte es zuerst an den Qualifikationen für die Forscherkarriere und dann war ein warmer Arbeitsplatz mit Büchern verlockender und leichter zu erreichen als eine Schiffspassage auf einem Forschungsschiff. Während des Studiums zur Bibliothekarin empfahl mir mein Professor, dass ich mich für einen Praktikumsplatz in Bremerhaven beim AWI bewerben solle. Gesagt, getan. Und so ging es Ende August 2003 in den hohen Norden.
Was mich dort erwartete, war so ganz anders als alles, was ich bis dahin von Bibliotheken kannte: keine Krimis, keine Bilderbücher und so gut wie keine Kunden. Die waren nämlich auf die verschiedenen Standorte in Deutschland und der Welt verteilt. Zwar befindet sich in Bremerhaven die Zentralbibliothek, aber auch an jedem Forschungsstandort gibt es eine eigene Bibliothek. Und so wie die Bücher, waren auch die Wissenschaftler/innen auf diese Standorte verteilt. So musste man bei jeder Anfrage erst prüfen, an welchem Standort der Kunde arbeitete und wo sich das gewünschte Medium befand. Je nachdem konnte er/sie sich den Artikel persönlich abholen oder wir mussten ihn zuschicken.
Einem besonderen Ereignis fieberten wir aber alle im AWI und in Bremerhaven entgegen: der Ankunft der „Polarstern“. Damals lag die „Polarstern“ alle sechs Monate in Bremerhaven vor Anker. Im Frühjahr kam sie aus der Antarktis, um weiter hinauf in die Arktis zu fahren. Im Herbst ging die Reise zurück in die Antarktis. In Bremerhaven wurde sie regelmäßig überholt und für eine neue Expedition vorbereitet.
Schon Wochen bevor die „Polarstern“ in Bremerhaven anlegte, waren wir in der Bibliothek damit beschäftigt, Fachbücher, Unterhaltungsliteratur und Zeitschriften zu besorgen. Diese sollten dann mit der „Polarstern“ in die Antarktis gehen und so einen kleinen Beitrag zum Unterhaltungsprogramm der Überwinterer, also der Forscher, die auf der Neumayer-Station im Winterhalbjahr sind, sorgen. Mit Internet und eBooks war es nämlich Anfang der 2000er Jahre noch nicht so dolle. Auch die „Polarstern“ verfügt über eine eigene, wenn auch kleine Bibliothek, welche von Bremerhaven aus betreut wird.
Und so machten wir uns eines morgens auf den Weg zur Werft. Die Spannung war groß. Ich war bis zu diesem Zeitpunkt noch nie auf einem hochseetauglichen Schiff gewesen. Und wie man sich eine Bibliothek auf einem Schiff vorzustellen hatte, war mir auch nicht klar. Und dann lag sie vor uns: groß und bullig. Viele Menschen wuselten um und auf dem Schiff herum. Es wurde gewerkelt und Material an Bord gebracht. Unsere kleine Gruppe wurde an der Gangway in Empfang genommen. Auf direktem Weg ging es in den Bauch der Polarstern. Ich hatte zwar mit den ungewöhnlich hohen Türschwellen zu kämpfen, aber ich kam, wie alle anderen, heil im Blauen Salon an. Denn dort befindet sich die Bibliothek. Und damit beim stärksten Sturm keine Bücher herumfliegen, besteht die Bibliothek nicht aus freistehenden Regalen, sondern alles ist in Wandschränken sicher verstaut. Auch der Rest der Einrichtung ist sturmerprobt und fest verschraubt, so dass man nicht einfach einen Stuhl zur Seite schieben kann.
Unsere vorrangige Aufgabe war es, zu kontrollieren, ob alle Medien, die laut Katalog vorhanden sein sollten, da waren und neue Bücher einzuräumen. Kurz schaute auch ein Mitglied der Crew vorbei, um mitzuteilen, dass ein neuer Atlas benötigt würde. Den musste die Bibliotheksmitarbeiterin besorgen. Nach nicht einmal zwei Stunden waren wir fertig. Und das Abenteuer „Polarstern“ war zu Ende.
Vermutlich werde ich meinem Traum, in die Antarktis zu kommen, nicht näher kommen als damals auf der „Polarstern“. Aber es war eine schöne, faszinierende und spannende Zeit und der Besuch auf der Polarstern ein spannendes Erlebnis. Auch einmal den Blick über den Tellerrand von öffentlichen Bibliotheken zu werfen, hat sich gelohnt. Und wer weiß, vielleicht will jemand im Auskunftsdienst einmal etwas über Pfannkucheneis wissen. Dann weiß ich, dass ich nicht bei den Kochbüchern nachschauen muss.
Wenn Ihr mehr über die „Polarstern“ und ihre letzte Expedition, die MOSAiC-Expedition erfahren wollt, empfehle ich den Expeditionsbericht von Markus Rex, den es zum Ausleihen gibt.
https://www5.stadtbibliothek-reutlingen.de/Permalink.aspx?search=rex+polarstern